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Ausstellung


H.aven
Mateusz Choróbski

H.aven, der Titel der Ausstellung von Mateusz Choróbski (Radomsko, 1987) bei der Dr. Éva Kahán Foundation in Wien, spiegelt sehr gut das Einführungsprojekt wie auch die Geschichte des Ortes, an dem sie stattfindet, wider, vor allem unter dem Aspekt ihrer semantischen Artikulation. Denn mit einem Buchstabenspiel kann sich schnell die Bedeutung verändern und Raum für verschiedene Deutungen schaffen; ebenso zahlreich sind die Interpretationsnuancen, die die Ausstellung begleiten, und genauso viel die chronologischen Phasen, die die Adresse der Wiener Kultureinrichtung durchlaufen hat.

H.aven, ohne Punkt nach dem Buchstaben H, kann wörtlich als Haven, d. h. ‚Hafen‘ im Englischen, verstanden werden, als ein physischer Zufluchtsort am Wasser, ein Landungsplatz, an dem man nach einer Reise Geborgenheit und Schutz finden kann. Fügt man anstelle des Punktes ein „e“ ein, wird daraus Heaven, ‚Paradies‘ im Englischen, d. h. jener Urort, der laut Bibel die ersten Menschen aufnimmt, oder jener Ort im Himmel oder auf der Erde, der für alle diejenigen bestimmt ist, die in den auf der Auslegung von Bibeltexten fußenden Theologien als „gerecht“ angesehen werden. Streicht man den Anfangsbuchstaben „H“ wird aus H.aven Aven, „ein“ wie Choróbski anmerkt, „einzigartiger, vielseitiger Name mit einer reichen Geschichte und vielen Bedeutungen. Seine Ursprünge lassen sich sowohl auf das Irische als auch das Hebräische zurückführen. Im Irischen kommt Aven von dem Namen Aoibheann, was ‚schön und angenehm‘ bedeutet. Eine weitere Bedeutung im Irischen ist ‚schönes Strahlen‘. Aven ist auch ein biblischer Name aus dem Alten Testament, der im Hebräischen die Bedeutung ‚Ungerechtigkeit‘ und ‚Schmerz‘ hat. (…) Seine Etymologie aus dem Britannischen ist „Fluss“, der Begriff kann jedoch auch als ‚Loch‘ oder ‚vertikaler Schacht, der aus einer Grotte nach oben führt‘ interpretiert werden (…)“, d. h. „das Gegenteil zu Heaven, das grammatikalisch auch an Aven anlehnt“.

Indem Choróbski mit der doppelten Deklination Haven / Heaven des Begriffs spielt, arbeitet er ein Projekt aus, das der Figur des jüdischen deutschsprachigenLyrikers rumänischer, später  französischer  Staatsangehörigkeit Paul Celan (Czernowitz1920  Paris1970) huldigt, der dem Künstler zufolge „sein ganzes Leben lang vergeblich seinen Platz auf der Erde [suchte] und in seinen Gedichten über ein Leben [reflektierte], das unweigerlich verloren war“. Zuerst der Deportation durch die Nationalsozialisten, bei der er beide Eltern verlor, dann der Verfolgung durch das kommunistische Regime entkommen, reiste er durch ganz Europa, bis er schließlich endgültig Zuflucht in Paris fand, wo er psychisch erkrankte und sich 1970 in der Seine das Leben nahm. Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erscheint kurz nach seiner berühmten Todesfuge (1948) der Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle, der sich um den Begriff „Schwelle“ dreht als liminalen Zustand, der einem identitären Raum sowohl unter kulturellem als auch persönlichem Aspekt vorangeht und dem Gedanken von Familie, Heim, Herkunftsort, Tempel des Gedächtnisses vergleichbar ist. Jene „Schwelle“, die sowohl im Judentum als auch im Kopf des Künstlers den symbolischen Wert eines Initiationsgebiets als Hüter von moralischen und zivilen, persönlichen und gemeinschaftlichen Werten annimmt, wird auch in dem Vers „Ich gehe wieder vor das Haus, ich suche das Wasser im Sand“, ebenfalls aus Von Schwelle zu Schwelle, zum Ausdruck gebracht. Daran anlehnend stellt Choróbski eine ideelle Verbindung zu dem Ort her, an dem sich die Dr. Éva Kahán Foundation in Wien befindet, dem Karmeliterviertel,einstmals ein Bezirk, in dem die jüdische Gemeinschaft lebte, die während des Holocaust zum Großteil zerstreut wurde. Er liegt in dem Gebiet nördlich der historischen Stadt Wiender Donauinsel Unterer Werd, das durch den Bau einer Brücke im 14. Jahrhundert leicht zugänglich und daher schon früh besiedelt wurde. Es war aber bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert immer wieder Hochwässern der Donau mit Überschwemmungen unterworfen. 

Die Gesamtheit dieser historischen und kulturellen Schichtungen, verschmolzen mit Paul Celans persönlichen und beruflichen Erfahrungen, bildet das narrative Erbe, auf das Choróbski für das Projekt in Wien zurückgreift. Und auch hier geht er wieder von der Beobachtung der umgebenden Realität aus und setzt sie in Werken um, die gemäß einer artikulierten Vielfalt von sprachlichen Systemen zum Ausdruck kommen: Plastiken, Videos, Performances, Installationen. Dazu greift er auf ein vielfältiges ikonografisches und ikonologisches Repertoire zurück, das oftmals vom Alltagsgeschehen und den Menschen, die sein Sichauflösen im Laufe der Zeit markieren, inspiriert wird und in der Lage ist, jeden Teil des Wahrnehmungssystems des Betrachters sowohl visuell als auch emotional anzusprechen. Es handelt sich um gewöhnliche Gegenstände aus einfachen Materialien, mineralischen und pflanzlichen Elementen, die er zuweilen bearbeitet, zuweilen in ihrem ursprünglichen Zustand darstellt. Dabei beobachtet er, wie sie sich unter der Einwirkung physikalischer und chemischer Vorgänge natürlichen oder menschlichen Ursprungs weiterentwickeln. Durch sie wirkt er auf den sie umgebenden Raum ein und setzt diesen wiederum als einen weiteren vollkommen ungreifbaren und virtuellen Arbeitsstoff ein. 

Die für die Große Sperlgasse konzipierte Installation setzt sich aus drei typologischen Ensembles zusammen, die alle eigens dafür konzipiert und mit 2024 datiert sind. Das erste besteht aus sieben Leuchtkörpern (H1aven-H7aven), genauso viele wie die Arme der Menora. Jeder ist in der Nähe eines Fensters - der fünf der Galerie und der beiden, die sich zum danebenliegenden Saal öffnen - platziert und erzeugt ein Strahlen, das gleichzeitig ein identitäres Merkmal (es markiert, auch in einer gewissen Entfernung, die Lage des Ausstellungsraums), ein logistisches (mit seiner Energie, Intensität und Farbe bezieht es das umgebende Gebiet ein und verändert in erheblichem Maße seine Sichtweise), ein symbolisches (die mystische und spirituelle Bedeutung des leuchtenden Strahls), ein allegorisches (aus der Ferne betrachtet ähneln die Leuchten Kerzenflammen mit goldenen Reflexen, in einem Tempel hängenden Votivlampen) annimmt. Die sieben elektrischen Konstruktionen werden durch eine Oberfläche aus Glas vervollständigt, einem Material, das in den Arbeiten Choróbskis immer wieder anzutreffen ist, und vor der Bearbeitung aus einem Sandgemisch besteht. Der Gedanke hinter Letzterem erinnert an die geologischen Überreste, die das Karmeliterviertel bedeckten, als es bis zum 19. Jahrhundert ständigen Überschwemmungen unterworfen war, und allgemeiner an den Sand der Wüste in der Bibel: Moses, der das Volk Israel durch die Wüste in das gelobte Land führt. Die Ausstellung evoziert dieses Kapitel des Alten Testaments und nimmt es als Anregung, um über die Gegenwart nachzudenken, die durch kontinuierliche Migrationen und das Umherwandern vieler Völker auf der Suche nach einem Ort zum Leben geprägt ist, genauso wie das ständige Reisen Celans auf der Suche nach einem erwählten Ort, an dem er sein Leben verbringen konnte. Man kehrt so wieder zur jüdischen Geschichte und ihrer immer noch lebendigen historischen Präsenz auf dem Gelände, auf dem die Stiftung untergebracht ist, zurück. Glassplitter tauchen dann in den Tür- und Fensterrahmen auf. Das Glas stammt aus der Verschmelzung von dem ursprünglich in Thermoskannen (Isolierbehälter zum Warmhalten einer Flüssigkeit) oder in den zum „Schröpfen“ (ein medizinisches Heilverfahren) benutzten Halbkugeln enthaltenen Glas, d. h. das für zwei „Instrumente“ benutzt wurde, die gestern wie heute zur Erfüllung persönlicher und körperlicher Bedürfnisse dienen. D. h. Recyclingmaterial, das zusammen mit den Farbspuren an den Tür- und Fensterrahmen aus Holz zu einem Thema führt, das Choróbski sehr am Herzen liegt: das Gedächtnis, das sich mehr oder weniger explizit durch das aktuelle Projekt zieht. Vervollständigt wird dieses durch Skulpturen, die am Boden der Galerie platziert sind und beide den Titel H.aven tragen. Es handelt sich um zwei Zylinder aus Stein, in denen sich Glassand in einer Menge befindet, die in einer menschlichen Lunge eingeschlossen sein könnte. In der Absicht des Künstlers nehmen sie Bezug auf das Thema Atmung, d. h. auf eine lebenswichtige Körperfunktion; auch sie sind eine Metapher des Lebens und eineReflexion über den Begriff der individuellen und kollektiven Identität. 

Schließlich beherbergt der kleine Raum vor dem Eingang der Galerie eine Videoinstallation mit dem Titel Nature, in der ein Film auf eine an den Wänden gespannte Leinwand projiziert wird. Diese bildet eine Art Hängedecke, unter der sich ein Hocker befindet, auf den man sich setzen und die Vorführung verfolgen kann. In kurzen Intervallen erscheint wie auf einer flüssigen Oberfläche gezeichnet eine Leuchtschrift „Nature banished into imperfection“. Von unten im geschlossenen Raum betrachtet erzeugt die Aufschrift, die durch ähnliche Reflexe bewegt wird, wie diejenigen, die von einem auf eine unregelmäßige Oberfläche strahlenden Licht erzeugt werden, das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden oder in amniotische Urflüssigkeit eingetaucht zu sein. Sie stellt noch eine weitere Allegorie des Lebens dar und steht damit im Einklang mit Choróbskis gesamtem Ausstellungsprojekt zur Bestätigung der kontinuierlichen Verflechtung von Geschichte, Gedächtnis und Emotionen, die den Nährboden für seine Suche bildet. 

Pier Paolo Pancotto, Kurator

 

Bitte beachten Sie: Aufgrund des multimedialen Charakters der Ausstellung ist der Kahan Art Space Vienna von Mittwoch bis Samstag täglich von 18:00 bis 22:00 Uhr geöffnet.

Photocredit: © Manuel Carreon Lopez

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