VERTICAL SILENCE
Andras Mohacsi
In den philosophischen Diskursen des 20. Jahrhunderts – vor allem in der Phänomenologie – wurde Stein lange als „nacktes Ding“ gesehen: ein weltloses, bedeutungsloses Objekt. Dabei ist Stein ein uralter Zeuge und Träger der Welt, der sowohl in der materiellen als auch in der spirituellen Ebene der Kultur präsent ist: in unseren literarischen und bildenden Kunstwerken, Denkmälern, Ritualgegenständen und Alltagsgegenständen. Als langsam erodierender analoger Träger von Botschaften vermittelt er auch ein Gefühl von Beständigkeit und Ordnung. In ihm konzentrieren sich die Kräfte der Natur, archaische Formen des Wissens und die universellen Symbole der Kunst.
Vertical Silence, die Einzelausstellung von András Mohácsi, zeigt eine Auswahl aus über drei Jahrzehnten des Schaffens des Künstlers, wobei der Schwerpunkt auf der zeitlosen Präsenz seiner monumentalen Steinskulpturen liegt. Mohácsis künstlerische Sprache und Denkweise wurden von der Tradition der Villányer Künstlerkolonie geprägt, die 1967 gegründet wurde und eine zentrale Rolle in der Geschichte der ungarischen Bildhauerei spielt. Dort übernahm er als Schüler von István Bencsik die Prinzipien einer autonomen, innerlich motivierten Bildhauerei. Die Land-Art-Bewegung der 1960er Jahre – mit Schlüsselfiguren wie Robert Smithson und Nancy Holt – sowie das parallele Aufkommen der minimalistischen und anti-formalen Skulptur, die sich mit der Vorstellung von Raum auseinandersetzte, wie sie in den Werken von Richard Serra, Ulrich Rückriem und Robert Morris zu sehen ist, hatten einen tiefgreifenden Einfluss nicht nur auf die theoretischen und institutionellen Rahmenbedingungen der westlichen Kunst, sondern – wenn auch indirekt – auch auf die unter politischer Unterdrückung geprägte Kunstszene Osteuropas. In Ungarn wurden diese internationalen Tendenzen vor allem durch Künstlerresidenzen und Symposien sichtbar, die ab Ende der 1960er Jahre an abgelegenen oder peripheren Orten wie Villány und Dunaújváros entstanden. Diese Kolonien fungierten als autonome Zonen, in denen die Verwendung natürlicher Materialien – Stein in Villány, Stahl in Dunaújváros – zusammen mit Veränderungen im Maßstab, ortsspezifischem Denken und der analytischen Erforschung von Landschaft, Raum und menschlicher Präsenz Diskurse hervorbrachten, die radikal von den offiziellen bildhauerischen Normen der Zeit abwichen. Dieser nicht-narrative und konzeptuelle Ansatz fand jedoch in Ungarn nur wenig Beachtung und wurde kaum repräsentiert. Sein Erbe wurde nie vollständig in den anerkannten, „offiziellen“ Mainstream der ungarischen Bildhauertradition integriert.
Die Steinskulpturen von András Mohácsi, die in der Industriehalle des Kahan Art Space Buda ausgestellt sind, sind keine archäologischen Artefakte, sondern das Statement des Künstlers – selbstbewusste, lebendige Präsenzen, die den umgebenden Raum aktiv gestalten und neu interpretieren. Mohácsi's bildhauerische Praxis ist grundlegend geprägt von Stein, Schnitzerei und den Gesetzen der Statik. Er arbeitet nicht mit Figuration – seine Praxis wurzelt in einem abstrakten, materialorientierten Ansatz, der auf der Direktheit, Ehrlichkeit und dem innewohnenden Potenzial des Steins aufbaut. Sein bevorzugtes Medium ist Granit, ein 200 bis 400 Millionen Jahre altes Gestein, das die Erinnerung an geologische Zeiten bewahrt. Die Arbeit mit diesem Material erfordert tiefe Konzentration, körperliche Ausdauer, technische Präzision und eine Reihe unwiderruflicher Entscheidungen. Beim Schnitzen ist jeder Eingriff einzigartig und endgültig – es gibt kein Zurück, keine Korrektur. Dieser radikale Prozess, der durch eine disziplinierte und konsequente Beziehung zwischen Material, Künstler und Werkzeugen definiert ist, verleiht Mohácsis Skulpturen ihre intellektuelle und physische Schwere.
Mohácsis bildhauerisches Schaffen kann als fortwährende Erforschung der räumlichen Wahrnehmung verstanden werden – als Auseinandersetzung mit der Dramaturgie des Raums. Er arbeitet mit monumentalen Massen und entwirft dennoch skulpturale Kompositionen, die sowohl in ihrer Form transparent als auch im Raum zugänglich sind. Seine Skulpturen entstehen nach den Gesetzen der Statik und finden ihre endgültige Form in einem feinen Dialog zwischen Masse, Gleichgewicht und Verschiebung. Die Spannungen zwischen den Blöcken und ihren subtil verschobenen Positionen erzeugen eine beunruhigende Stille. Doch mit der Zeit, wenn der Betrachter sich in dem Raum aufhält, wird ihre solide Präsenz vertraut. Die Machtverhältnisse zwischen dem Material und dem Künstler werden sowohl während des Schaffensprozesses als auch während der Installation ständig neu verhandelt – manchmal behauptet der Künstler die Kontrolle, manchmal beharrt das Material auf seiner eigenen Logik. In diesem Prozess der gegenseitigen Gestaltung entsteht ein Vertrauensverhältnis – eine stille Allianz, in der beide Seiten Kompromisse suchen. Durch diese Interaktion formen und temperieren sich Künstler und Material gegenseitig. Der elementare Stein nimmt nicht nur Form an, sondern übt durch seinen Widerstand auch Einfluss aus und wird so zu einem aktiven Teilnehmer am Werk selbst.
kuratiert von Tiffany FARKAS
András MOHÁCSI (1963, Budapest) ist Bildhauer und einer der führenden ungarischen Künstler, bekannt für seine monumentalen Skulpturen aus Stein. Er lebt und arbeitet derzeit in Budapest. Seine künstlerische Ausbildung begann er zwischen 1977 und 1983 an der Malschule von Lajos Szlávik und im Atelier von Antal Pázmándi. Im Jahr 1991 schloss er sein Studium an der Fakultät für Bildhauerei der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste ab, wo er bei József Somogyi studierte. Er setzte sein Masterstudium an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste und später an der Fakultät für Kunst der Universität Pécs bei István Bencsik fort und erwarb 1998 seinen Master-Abschluss und 2005 seinen DLA-Doktorgrad. 1993 unternahm er eine Studienreise nach Großbritannien – England, Schottland und Wales –, wo ihn die ikonischen Steinmonumente tief beeindruckten und seine bildhauerische Vision entscheidend prägten. Von 1993 bis 1998 arbeitete er in der Villány Stone Sculpture Art Colony, wo seine künstlerische Sprache reifte, wobei er sich vor allem mit der Erforschung der statischen und archetypischen Bedeutungsebenen von Stein beschäftigte. Seit den 2000er Jahren macht er auch Grafiken und Gemälde und arbeitet als Bühnenbildner. Er hatte unter anderem Einzelausstellungen im Kahan Art Space Pest (2023, 2024), in der Artus Gallery (2011, 2002, 2000) und im Kiscelli Museum (2003). Seine öffentlichen Kunstwerke sind in Budapest, Pécs und Lahr (Deutschland) zu sehen. Seit 2000 unterrichtet er an der Moholy-Nagy Universität für Kunst und Design.
Tiffany FARKAS (1999, Szolnok) ist Kuratorin und Ästhetikerin und lebt in Budapest. Sie hat 2020 ihren Abschluss als Kuratorin an der Ungarischen Universität der Künste gemacht und 2022 ihren Master in Ästhetik an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) abgeschlossen. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Einfluss von künstlicher Intelligenz und Digitalisierung auf die zeitgenössische bildende Kunst, aber ihre kuratorische Arbeit beschäftigt sich auch mit Fragen der Humanökologie und archaischen und modernen Mythen in der zeitgenössischen Kunst. Zuvor arbeitete sie im Ludwig Museum in Budapest und an einem Projekt des Artpool Research Center. Sie eröffnet regelmäßig Ausstellungen und veröffentlicht auf verschiedenen Plattformen. Seit 2023 ist sie Kuratorin in der Molnár Ani Gallery.
Infos
Vernissage: 5. Juni 2025, Donnerstag, 19 Uhr | Eröffnungsrede: József Mélyi, Kunsthistoriker
Die Ausstellung kann besucht werden: 6. Juni – 30. September 2025 | nach telefonischer Vereinbarung von Montag bis Donnerstag von 10 bis 16 Uhr
Terminvereinbarung und Pressekontakt: Adrienn Németh | +36303804905 | nemeth@evakahanfoundation.org
Adresse: Kahan Art Space Buda | 1116 Budapest, Gyapot utca 4.
photo credit: ©Ábel Szalontai